DIE ZEIT, 12. Oktober 2006

Der letzte Zug
CDas Bordbistro der Deutschen Bahn war eins der letzten Refugien für Raucher.
Nun heißt es auch hier: Zigarette aus! Eine Abschiedsfahrt.
Von Karin Ceballos Betancur

Gegen alle Vernunft rauche ich immer noch ganz gerne, unter anderem in den Bordbistros der Deutschen Bahn. Man braucht keine Platzreservierung und sitzt nie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, man kann die Beine ausstrecken, rauchen, die Zeitung auf einem Tisch ausbreiten, lesen, rauchen, Kaffee trinken, Musik hören, rauchen und dem Leben zusehen: Handlungsreisenden mit bunten Krawatten (klassisch) oder bedruckten Polohemden (leger), die Uwe, Klaus oder Willy heißen und Sachen sagen wie: »Ich hab im Fernsehen mal einen Schauspieler gesehen, der gesagt hat: Meine Hobbys sind Frauen, in die Kneipe gehen und zocken. Das fand ich super, weil: Meine Hobbys sind das auch.« Oft tragen sie Handy- und Sonnenbrillenetuis am Gürtel, selbigen ober- oder unterhalb einer imposanten Plauze. Das Bordbistro ist eine Bühne des Alltags, auf der sich alle gegenseitig bespielen, mit durchaus kathartischer Wirkung. Manchmal frage ich mich, ob ich zu viel Alkohol trinke. Nach einer Reise im Bordbistro weiß ich: Ich bin nur ein Spatz am tiefen Trog der Brauindustrie.

Der ICE 109 verlässt den Frankfurter Hauptbahnhof um 15.50 Uhr in Richtung München. Es ist Samstag, der 30. September. In moderaten, durchschaubaren Dunstschwaden geht unbemerkt eine Ära zu Ende. Ab morgen, 1. Oktober, ist das Rauchen in den Bordbistros der Bahn verboten.

»Raucher gelten zwar in der Gastronomie generell als gute Kunden«, heißt es in der aktuellen Ausgabe des Bahnmagazins mobil, »doch die Verantwortlichen sind davon überzeugt, dass künftig Fahrgäste Gefallen an den Bistros finden, die sie bisher naserümpfend gemieden haben, Familien mit Kindern zum Beispiel.« Kein wirklich zwingendes Argument. Familien mit Kindern würden auch Bordelle, Casinos und Bürgerkriegsgebiete betreten, wenn Prostituierte, Spieler und Milizen anderswo unterkämen, in einem Großraumabteil der Deutschen Bahn zum Beispiel.

Kurz vor Mannheim durchquert ein kleines Mädchen das Bistro, ein Taschentuch vor Nase und Mund gepresst, die Augenbrauen finster gekrümmt. Zugegeben: Manchmal ist die Luft ein bisschen ekelhaft, zumal in vollen Zügen, wenn alle Raucher aus den Nichtraucherwaggons ins Bistro kommen, Rauch absondern und anschließend wieder an ihre Nichtraucherplätze zurückkehren. An Tagen wie diesen reichen zehn Minuten, um die Kleidung mit einem ätzenden Geruch zu tränken, der nicht mal mehr an Zigaretten erinnert. Heute allerdings ist das Klima vorbildlich, zumal zwei der sechs Anwesenden vor einiger Zeit eingeschlafen sind.

Eingeräumt sei auch, dass die Einrichtung der Bistros in den vergangenen Jahren offensichtlich gelitten hat. Eine ältere Dame streift minutenlang mit der Hand über das fleckige Polster der Sitzecke, bis sie bemerkt, dass die Flecken eingebrannt sind. Hinter Stuttgart setzt sich ein korpulenter Mann mit einem Weizenbierglas auf die Kante neben ihr. »Heute darf man noch rauchen, ja?« Der Kellner hinter dem Tresen nickt. »Na, Gott sei Dank«, sagt der Mann mit dem Weizenbier. Dann fängt er an, sich darüber aufzuregen, dass der Zug, mit dem er nach Stuttgart gefahren ist, über eine Stunde Verspätung hatte.

Vor wenigen Tagen vermeldeten Zeitungen, dass nur noch eine rekordgeringe Anzahl von Zügen der Deutschen Bahn ihr Ziel pünktlich erreicht. Der Investitionsrückstand bei der Instandhaltung des Schienennetzes wurde auf 1,5 Milliarden Euro beziffert. Gut, dass sich da wenigstens die Einführung des Nichtraucherbistros als Reaktion auf einen »Trend der Zeit« verkaufen lässt. Der ICE 109 fährt mit 23 Minuten Verspätung in den rauchfreien Münchner Hauptbahnhof ein. Die Nacht ist kurz. Oktoberfest. Eine ganze Stadt betrunken.

Als der ICE 596 am Sonntagmittag München verlässt, ruht das Rollladenende des Bistroverkaufsschalters noch auf der Theke. Am Tisch rechts sitzt ein Pärchen, rauchend. Die Frau, die zur Linken Platz genommen hat, isst noch ihre Brötchentüte leer, ehe sie den Abfall findig zu einem Aschenbecher formt und sich ebenfalls eine Zigarette anzündet. Ein Mann mit Handy telefoniert am Stehtisch, rauchend. So geht das bis weit hinter München. Ein Fahrkartenkontrolleur, der trotz Bartwuchs einen Damenrock und blickdichte Nylonstrumpfhosen trägt, zieht an mir vorüber, anschließend ein junger Mann in bodenlangem schwarzem Ledermantel mit der Rückenaufschrift »Made in Hell«. Während ich den Restpromillegehalt in meinem Blut grob überschlage, wird eine Stimme aus dem Off hörbar: »Hier ist Nichtraucher.« Müde Augen fixieren einen Punkt im Irgendwo, nahe dem Restaurant. Dann geht alles sehr schnell.

Eine Bahnbedienstete mit rot gefärbtem kurzem Haar kommt mit großen Schritten ins Bistro, bellt: »Hier ist Nichtraucher, seit heute, los, Zigaretten ausmachen«, und knallt der Frau mit dem Brötchentütenascher einen Pappbecher mit Wasser auf den Tisch. Dann rauscht sie zurück in die Bordküche. Wir, die Raucher, sehen uns an, konsterniert. Ob man das nicht auch netter hätte sagen können, flüstert ein Nichtraucher, der am Tresen auf seinen Kaffee wartet, offenbar eher bestürzt als bestätigt. Die Raucherin löscht ihre Zigarette mit einem kurzen Zischen artig im Becher. Minuten vergehen. Dann betritt ein junger Mann das Bistro. Er sieht die Zigarettenpäckchen auf den Tischen, riecht den Zigarettenrauch in der Luft, setzt sich hin und zündet sich eine Zigarette an. Er schafft nur wenige Züge.

Die Rot- und Kurzhaarige kehrt zurück, diesmal Pappschilder auf den Tischen verteilend: »Liebe Gäste, bis zum 30. September 2006 darf in unseren Bordbistros geraucht werden. Ab dem 1. Oktober heißt es dann: Rauchfrei genießen. Wir erfüllen damit einen Wunsch der Mehrzahl unserer Gäste. Zum gleichen Zeitpunkt werden neue attraktive Produkte unser Speisen- und Getränkeangebot bereichern. Lassen Sie sich überraschen!« Dann sagt sie: »So, hier steht’s. Los, Zigaretten aus!«

Ich stehe auf und lehne mich an den Verkaufstresen: »Entschuldigung – die neuen attraktiven Produkte im Speisen- und Getränkeangebot, was sind das denn für welche?« Die junge Kellnerin sieht mich an, als hätte ich darum gebeten, dass mir drei nackte Ziegenhirten ein Croissant servieren. Sie wühlt in ihren Unterlagen neben der Kasse. Dann sagt sie: »Da müssen Sie mal im Restaurant schauen.« Und Bionade? Ob ich eine Bionade haben könnte? Steht im Bahnmagazin, dass es die jetzt gibt. »Nee, haben wir nicht. Nur Apfelschorle und Wasser, aber das ist beides noch nicht kalt.« Ich wähle eine Flasche Mineralwasser zu 2,80 Euro.

Am Tisch neben mir sitzt jetzt ein kleines Mädchen mit rot eingefärbten Haarsträhnen, das lustlos Nürnberger Würstchen durch einen Klecks roter Soße schubst. Ein Vater hat seinen kleinen Sohn auf einem der Stehtische platziert und schneidet Grimassen. Erst gluckst das Kind, dann fängt es an, Freudenschreie auszustoßen, laute Freudenschreie. Es hört gar nicht mehr auf, sich sehr laut zu freuen. Passivmutter sein ist auch kein Spaß.

Auf dem Weg zum Raucherabteil werfe ich im Bordrestaurant einen Blick auf die neue Kinderspeisekarte. Drei von vier Gerichten gab es schon immer, das vierte wird auch jetzt nur im Restaurant serviert, wo das Rauchen schon immer verboten war. Sie haben uns verraten und verkauft, für eine gebratene Hähnchenbrust mit Ketchup und Brötchen.

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